Panne in der Rettungsleitstelle: Wenn der Notarzt zu spät kommt
In einem aktuellen Fall befasst sich der Bundesgerichtshof mit der Haftung von Rettungsleitstellen, die auf einen eingehenden Notruf fehlerhaft reagieren (BGH, Urt. v. 15.05.2025, Az. III ZR 124/21).
Verzögerte medizinische Versorgung
Konkret ging es um eine Schwangere, bei der einen Monat vor dem Geburtstermin plötzlich starke Schmerzen auftraten. Ursache war eine vorzeitige Plazentaablösung. Die telefonisch verständigte Hebamme riet der Schwangeren, sich sofort in ein Krankenhaus bringen zu lassen. Der Ehemann der Schwangeren rief daraufhin sofort den Rettungsdienst an. Der Anruf ging um 22:41 Uhr bei der Rettungsleitstelle Bad Oldesloe ein. Der Ehemann teilte mit, seine schwangere Frau habe starke Schmerzen und müsse laut Hebamme sofort in ein Krankenhaus gebracht werden. Der Disponent der Rettungsleitstelle meldete den Notruf und sämtliche Details um 22:47 Uhr zuständigkeitshalber an die Rettungsleitstelle Schwerin weiter. Der Disponent der Rettungsleitstelle Schwerin wiederum leitete den Notruf im Wege der Amtshilfe an die Rettungsleitstelle Lübeck weiter. Dabei teilte er jedoch nur mit, dass es um Schmerzen in der Schwangerschaft gehe. Die Einschätzung der Hebamme, dass die Schwangere sofort in ein Krankenhaus gebracht werden müsse, gab er nicht weiter. Daraufhin alarmierte der Disponent der Rettungsleitstelle Lübeck um 22:51 Uhr einen Rettungswagen, der – ohne Notarzt – schließlich um 22:53 Uhr ausrückte. Der Rettungswagen traf um 23:17 Uhr bei der Schwangeren ein. Da es der Patientin sehr schlecht ging, forderte die Besatzung des Rettungswagens um 23:18 Uhr einen Notarzt an. Dieser traf um 23:30 Uhr ein und veranlasste um 23:33 Uhr den Transport der Schwangeren in das Universitätsklinikum Lübeck. Die Schwangere traf dort um 23:49 Uhr ein. Kurze Zeit später brachte sie ihr Kind per Not-Kaiserschnitt zur Welt. Trotz aller Rettungsbemühungen hatte das Kind mittlerweile wegen unzureichender Sauerstoffzufuhr einen erheblichen Gesundheitsschaden erlitten, an dem es einige Zeit später auch verstarb.
Vorinstanzen lehnen Amtshaftung ab
Die Eltern des Kindes verklagten daraufhin die Träger der beteiligten Rettungsleitstellen auf Schmerzensgeld und Schadenersatz. Sie machten geltend, dass die Leitstellen ihre Amtspflichten verletzt und damit letztlich den Tod des Kindes verursacht hätten. Es hätte sofort ein Notarzt losgeschickt werden müssen. Sowohl das Landgericht Lübeck als auch das OLG Schleswig sahen dies allerdings anders und wiesen die Klage ab. Nach dem Notarztindikationskatalog der Bundesärztekammer habe das „Meldebild“ nicht erfordert, sofort einen Notarzt zu entsenden. Auch die Weiterleitungen des Notrufs zwischen den Rettungsleitstellen seien nicht zu beanstanden und letztlich nicht schadensverursachend gewesen.
BGH: Sachverständigengutachten erforderlich
Der Rechtsstreit landete schließlich vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Dieser hob das Urteil des Oberlandesgerichts Schleswig nun auf und wies den Fall zur erneuten Verhandlung zurück. Der Bundesrichter bemängelten, dass die Vorinstanzen kein Sachverständigengutachten zu der Frage eingeholt hätten, ob wegen des Zustands der Schwangeren die sofortige Entsendung eines Notarztes erforderlich gewesen sei. Es müsse außerdem geprüft werden, ob den Disponenten der Rettungsleitstellen eine grobe Vernachlässigung rettungsdienstlicher Amtspflichten anzulasten sei. Das heißt, ob ihnen Fehler unterlaufen sind, die aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheinen, weil sie dem Disponenten einer Rettungsdienststelle schlechterdings nicht unterlaufen dürfen.
Beweislastumkehr auch bei groben Fehlern der Rettungsleitstelle
Der Bundesgerichtshof betont zudem, dass bei groben Amtspflichtverletzungen im Rettungsdienst die Beweislast hinsichtlich der Schadensursächlichkeit umgekehrt wird. Das bedeutet, dass die Rettungsleitstelle, die für den Einsatz verantwortlich ist, in einem solchen Fall künftig nachweisen muss, dass es auch dann zu dem Schaden (hier: Tod des Kindes) gekommen wäre, wenn sich die Disponenten ordnungsgemäß verhalten hätten.
Der Bundesgerichtshof beruft sich hierbei ausdrücklich auf das Arzthaftungsrecht. Dort kommt es bei groben Behandlungsfehlern zu einer Beweislastumkehr zu Lasten des Arztes. Laut Bundesgerichtshof müssen diese Grundsätze auch bei groben Pflichtverletzungen von Disponenten im Rettungsdiensteinsatz gelten, also bei nicht-ärztlichen bzw. nicht-medizinischen Maßnahmen. Wichtigste Aufgabe des Disponenten bei der Bearbeitung von Notrufen ist es nämlich, Gefahren für Leib und Leben der Patienten abzuwenden. Bei lebensbedrohlich Verletzten oder Erkrankten müssen unbedingt die korrekten lebensrettenden Maßnahmen veranlasst werden. Verletzt ein Disponent diese Pflicht auf grobe Weise, entspricht es der Billigkeit, auch hier die Beweislast vom Patienten auf den Disponenten zu verlagern. Der Disponent trägt somit im Ergebnis die Verantwortung dafür, wenn durch seine Pflichtverletzung erhebliche Aufklärungsschwierigkeiten entstehen, weil sich die gesundheitlichen Vorgänge im menschlichen Organismus im Nachhinein oft nicht mehr exakt rekonstruieren lassen.
Fazit: Trotz Beweiserleichterung hochkomplexe Fälle
Bei Notarzt- und Rettungseinsätzen kann es zu zahlreichen Fehlentscheidungen kommen, die oft tragisch enden: Rettungsmittel werden von der Leitstelle falsch oder nur verzögert disponiert, das Rettungspersonal fährt verspätet zum Patienten ab oder hält die Hilfsfrist nicht ein, dem Notarzt unterlaufen Fehler bei der Erstversorgung usw. Die Rettungsleitstellen sind jedoch vor allem bei Notfällen dazu verpflichtet, unverzüglich und richtig zu handeln. Sie müssen bei Anzeichen einer akuten Gefahr schnell und angemessen reagieren. Tun sie dies nicht und stellt dies einen groben Fehler dar, führt dies in einem späteren Haftungsprozess zu einer Beweislastumkehr zu Gunsten des betroffenen Patienten.
Trotz dieser wichtigen prozessualen Erleichterung ergeben sich für betroffene Patienten in der Praxis zahlreiche rechtliche und tatsächliche Fallstricke. So werden beispielsweise die zu Beweiszwecken äußerst wichtigen Funk- und Telefonmitschnitte von vielen Rettungsleistellen bereits nach wenigen Monaten gelöscht. Schwierigkeiten bereitet auch die Frage, gegen wen der Patient überhaupt etwaige Schadensersatzansprüche richten muss (sog. „Passivlegitimation“). Ist dies der Arzt, Sanitäter und/oder der Disponent? Und wer ist überhaupt der Träger der Rettungsleitstelle? Handelt es sich gegebenenfalls sogar um mehrere Schädiger, die alle gemeinsam verklagt werden müssen? Auch die Abgrenzung zwischen öffentlich-rechtlichen und zivilrechtlichen Ansprüchen ist oftmals sehr komplex und kann von Bundesland zu Bundesland variieren. Daher ist es für betroffene Patienten, aber auch Disponenten oder Notärzte besonders wichtig, sich in einer solchen Situation zügig fachkundigen Rechtsrat einzuholen. Wir von der Kanzlei Dr. Schuld stehen Ihnen hier gerne mit Rat und Tat zur Seite.
von Rechtsanwältin Dr. Yvonne Schuld, LL.M.