Corona-Impfverordnung unter Beschuss

Nachdem sich eine Hamburger Krebspatientin vor zwei Wochen eine vorgezogene Corona-Impfung erkämpft hat (wir berichteten), wird der Ruf nach einer Härtefallregelung in der Corona-Impfverordnung des Bundes immer lauter.

Die „vergessenen Risikogruppen“

Bei den Diskussionen geht es vor allem um die sogenannten „vergessenen Risikogruppen“. Hierbei handelt es sich insbesondere um Menschen, die

  • aufgrund einer schweren Krankheit zu Hause gepflegt werden (Wachkomapatienten, Patienten mit „hoher“ Querschnittslähmung etc.)

Diese Personen haben – unabhängig von ihrem Alter – ein deutlich erhöhtes Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf. Außerdem werden sie meist von wechselndem Pflegepersonal betreut und können sich nicht oder nur begrenzt isolieren. Somit besteht für diese Patienten auch eine erhöhte Ansteckungsgefahr.

  • akut an Krebs erkrankt sind und wegen einer therapiebedingten Immunschwäche durch das Coronavirus besonders gefährdet sind

Auch bei diesen Patienten besteht ein erhöhtes Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf und ein erhöhtes Ansteckungsrisiko aufgrund häufiger Krankenhausaufenthalte u.ä.

 

All diese Personen fallen regelmäßig nicht in die höchste Priorisierungsgruppe nach der Bundesimpfverordnung. Aufgrund der anhaltenden Knappheit an Impfstoffen werden sie voraussichtlich noch wochen- oder gar monatelang auf eine Impfung warten müssen. Oftmals wenden sich die Betroffenen daher an die zuständigen Gesundheitsämter und bitten um einen vorgezogenen Impftermin. Regelmäßig wird ihr Begehren dort jedoch zurückgewiesen. In diesem Fall bleibt nur noch der Gang zu den Gerichten.

Aktuelle Entscheidungen

Zwischenzeitlich liegen auch die ersten Gerichtsentscheidungen zu diesem Thema vor – die jedoch unterschiedlicher kaum sein könnten:

 

Härtefallprüfung/Impfanspruch abgelehnt:

Das Verwaltungsgericht Berlin lehnte den Anspruch zweier Krebspatienten auf eine vorgezogene Corona-Impfung ab (VG Berlin, Beschl. v. 29.01.2021, Az. 14 L 13/21, 14 L 33/21). Einzelfallentscheidungen seien in der Corona-Impfverordnung nicht vorgesehen. Auch aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit lasse sich kein prioritärer Impfanspruch ableiten. Im Übrigen könne offenbleiben, ob das Parlament eine derart wesentliche Frage wie die der Impfpriorisierung hätte selbst regeln müssen. Denn auf jeden Fall stelle die derzeit von den Gesundheitsbehörden praktizierte Verfahrensweise keine sachlich ungerechtfertigte Ungleichbehandlung dar.

 

Härtefallprüfung bejaht:

Das Verwaltungsgericht Frankfurt verpflichtete die Stadt Frankfurt, bei der nächsten Lieferung von Corona-Impfstoffen zu prüfen und zu entscheiden, ob ein zu 100% Schwerbehinderter aufgrund seiner Erkrankung ggf. vorrangig zu impfen ist (VG Frankfurt, Beschl. v. 29.01.2021, Az. 5 L 182/21.F, 5 L 179/21.F). Der Betroffene ist unterhalb des Halswirbels gelähmt und verfügt über Pflegegrad 5. Aufgrund seiner Lähmungen sind auch die Lungenfunktionen eingeschränkt. Nach vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen gehört er zur Hochrisikogruppe bei einer Corona-Erkrankung und würde mit Sicherheit beatmungspflichtig werden. Das Gericht äußerte rechtliche Bedenken hinsichtlich der Bildung und Abgrenzung der verschiedenen Risikogruppen in der Bundesimpfverordnung. Für die Sicherheit des Betroffenen sei es auch nicht ausreichend, wenn das ihn umgebende Pflegepersonal, aber nicht er selbst geimpft werde. Im Übrigen räume die Bundesimpfverordnung den Behörden in atypischen Fällen einen Ermessensspielraum ein. Die Behörden müssten dann eine eigenständige Priorisierung des Betroffenen entsprechend des attestierten ärztlichen Befundes vornehmen.

STIKO empfiehlt schön länger Härtefallentscheidungen

Sogar die STIKO hat das Thema der „vergessenen Risikogruppen“ aufgegriffen und ihre Impfempfehlungen bereits Anfang Januar entsprechend angepasst. Danach soll es durchaus möglich sein, in besonderen Härtefällen anders zu priorisieren:

Bei der Priorisierung innerhalb der COVID-19-Impfempfehlung der STIKO können nicht alle Krankheitsbilder oder Impfindikationen explizit genannt werden. Es obliegt daher den für die Priorisierung in den Bundesländern Verantwortlichen, in Einzelfällen Personen, die nicht ausdrücklich im Stufenplan genannt sind, angemessen zu priorisieren. Dies betrifft z. B. Personen mit seltenen, schweren Vorerkrankungen oder auch schweren Behinderungen, für die bisher zwar keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz bzgl. des Verlaufes einer COVID-19-Erkrankung vorliegt, für die aber ein deutlich erhöhtes Risiko angenommen werden muss. Dies trifft auch für Personen zu, die zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr oder nicht mehr gleich wirksam geimpft werden können (z. B. bei unmittelbar bevorstehender Chemotherapie). […].“ (STIKO-Empfehlung zur COVID-19-Impfung v. 29.01.2021)

Politik am Zug

In der Politik scheinen die zahlreichen juristischen Bedenken gegen die aktuelle Impfpraxis bei Schwerstkranken, aber auch die STIKO-Empfehlungen derzeit nur begrenzt Widerhall zu finden. Der Bund hat sich noch nicht zur Aufnahme einer eigenen Härtefall-Klausel in die Corona-Impfverordnung geäußert. Laut einem Bericht der taz-online vom 31.01.2021 gibt es auch bei den Bundesländern keine einheitliche Linie:

  • Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Saarland, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen lehnen – zumindest derzeit – Sonderlösungen ab und wollen selbst in Härtefällen nicht von der vorgegebenen Reihenfolge abweichen.
  • Bayern und Mecklenburg-Vorpommern behalten sich Einzelfallentscheidungen vor.
  • Bremen und Rheinland-Pfalz haben bereits ein Verwaltungsverfahren eingerichtet, in dessen Rahmen Anträge auf vorzeitige Impfungen gestellt werden können. Eine Impfkommission bzw. ein Ethikbeirat trifft dann eine Entscheidung bzw. gibt eine Empfehlung ab. Auch in Baden-Württemberg gibt es entsprechende Überlegungen, ein Härtefallverfahren einzuführen.

Für Patienten, die einer „vergessenen Risikogruppe“ angehören, ist die aktuelle Impfpraxis extrem belastend. Es ist unverständlich, warum die Chancen auf eine vorgezogene Impfung offenbar im Wesentlichen davon abhängen, in welchem Bundesland der oder die Betroffene wohnt. Eine solche Situation ist aus rechtlichen aber auch aus humanitären Gründen völlig inakzeptabel. Sollte die Bundesimpfverordnung an dieser Stelle nicht entsprechend geändert werden, kann nur noch eine schnelle höchstrichterliche Entscheidung die nötige Klarheit bringen.

Sollten Sie zu diesem Thema vertiefte Auskünfte wünschen, stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.

 

von Rechtsanwältin Dr. Yvonne Schuld, LL.M.