demenzkranker-im-pflegeheim

Nach tödlichem Fenstersturz: Demente Heimbewohner müssen besser geschützt werden

Nach einer jüngsten Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urt. v. 14.01.2021, Az. III ZR 168/19) müssen demente Heimbewohner besser geschützt werden, wenn die Gefahr einer Selbstschädigung besteht.

Sturz aus dem Dachfenster

Im vorliegenden Fall ging es um einen 64-jährigen Bochumer, der an hochgradiger Demenz litt und deswegen seit einigen Wochen in einem Pflegeheim lebte. Er hatte starke Gedächtnisstörungen und Sinnestäuschungen und wies eine starke Desorientierung, Unruhe und Lauftendenz auf. Sein Zimmer befand sich im dritten Obergeschoss (Dachgeschoss) des Pflegeheims. Das Zimmer verfügte über zwei große, ungesicherte Dachfenster. Vor den Fenstern befanden sich ein Heizkörper (40cm hoch) sowie eine Fensterbank (70cm hoch), über die man praktisch „stufenweise“ zur Fensteröffnung gelangen konnte. Eines Tages stieg der 64-Jährige auf diese Weise zu den Fenstern, öffnete sie und stürzte hinaus. Dabei erlitt er schwerste Verletzungen, an denen er einige Wochen später verstarb.

Klage auf Schmerzensgeld

Die Witwe verklagte daraufhin das Pflegeheim auf ein Schmerzensgeld von mindestens 50.000 Euro. Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht wiesen die Klage ab. Erst in der Revisionsinstanz bekam die Witwe Recht: Der Bundesgerichtshof entschied, dass ein dementer Heimbewohner, der erkennbar selbstgefährdet ist, nicht in einem Zimmer untergebracht sein darf, das im Obergeschoss liegt und leicht zugängliche Fenster hat. Die Richter stellen Folgendes klar:

  • Ein Pflegeheim hat besondere Obhuts- und Sicherungspflichten, wenn aufgrund der körperlichen und geistigen Verfassung eines Heimbewohners im Vorhinein ernsthaft mit dessen Selbstgefährdung gerechnet werden muss.
  • Dabei kommt es nicht darauf an, ob ein bestimmter Unglückfall im konkreten Fall naheliegt oder wahrscheinlich ist. Es reicht vielmehr aus, dass eine Gefahr besteht, deren Verwirklichung (sei sie auch eher unwahrscheinlich) zu besonders schweren Folgen führen kann.
  • Ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung besteht keine Pflicht zu besonderen (vorbeugenden) Sicherungsmaßnahmen.

Oberlandesgericht muss neu verhandeln

Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs muss der Fall des Bochumers neu verhandelt und entschieden werden. Das zuständige Oberlandesgericht wird dabei das gesamte Krankheitsbild sowie die geistige und körperliche Verfassung des Verstorbenen bewerten. Sollte sich bestätigen, dass im konkreten Fall tatsächlich zwingende Anhaltspunkte für eine Selbstgefährdung vorlagen, würde das Pflegeheim für die Verletzung seiner Obhuts- und Sicherungspflichten haften. Die Witwe könnte dann erfolgreich ein angemessenes Schmerzensgeld beanspruchen. Über die genaue Höhe des Schmerzensgeldes hätte das Oberlandesgericht ebenfalls zu entscheiden.

Handlungspflicht für Alten- und Pflegeheime

Der Fall zeigt, dass Alten- und Pflegeheime beim Umgang mit Demenzkranken besondere Vorsicht walten lassen müssen. Demente Menschen werden gerade deshalb in Pflegeheimen untergebracht, weil oft nur dort überhaupt noch eine adäquate Betreuung und Aufsicht möglich ist. Die Betroffenen sind besonders schutzbedürftig, weil sie in der Regel Gefahren für sich und andere nicht mehr rechtzeitig erkennen und beherrschen können.

Die Haftungsfrage

Welche konkreten, zusätzlichen Sicherungsmaßnahmen Alten- und Pflegeheime zu treffen haben, lässt sich nicht pauschal beantworten. Für die Haftungsfrage kommt es immer darauf an, alle Umstände des Einzelfalls sorgfältig zu würdigen, insbesondere:

  1. Ausprägungsgrad der Demenz („Risikofaktor Mensch“)
    • Wie stark ist die Demenz bei dem betroffenen Heimbewohner ausgeprägt?
    • Kommt es zweitweise oder dauerhaft zu Sinnestäuschungen?
    • Besteht eine zeitliche, örtliche, räumliche, situative oder persönliche Desorientierung?
    • Weist der Demenzkranke eine erhöhte Mobilität und – ggf. unkontrollierte – Lauftendenz auf?
    • Ist nachts und/oder tagsüber eine psychisch-motorische Unruhe zu beobachten?
    • Hat sich der Demenzkranke bereits in der Vergangenheit – oder aktuell – potentiell selbstgefährdend oder in anderer Form auffallend „inadäquat“ oder „unkalkulierbar“ verhalten?
  2. Gefahrenquelle Pflegeheim („Risikofaktor Pflegeheim“)
    • Bestehen im Innen- oder Außenbereich des Pflegeheims besondere Gefahrenstellen mit erhöhten Verletzungsgefahren (z.B. Treppen, höhergelegene Fenster, Teichanlagen)?
    • Haben sich in der Vergangenheit bereits Unfälle oder „Beinahe-Unfälle“ mit Heimbewohnern ereignet?
    • Gibt es besondere Schutzmaßnahmen (z.B. besondere Schließmechanismen, Kippregler, Absperrungen, genug Aufsichtspersonal)?

Balanceakt zwischen Schutz und Freiheit

Die vorgenannten Punkte dienen lediglich einer ersten Orientierung und sind selbstverständlich nicht abschließend. Wir empfehlen daher allen Alten- und Pflegeheimbetreibern, ihre Schutzkonzepte für demenzkranke Heimbewohner noch einmal genau zu überprüfen und ggf. nachzubessern.

Wenn bei verständiger Würdigung nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich ein Demenzkranker ohne weitere Sicherungsmaßnahmen möglicherweise selbst gefährdet oder schädigt, besteht auf jeden Fall die Pflicht zu handeln. Fehlen solche Anhaltspunkte, scheidet eine Haftung regelmäßig aus. Durch diese Differenzierung wird letztlich auch dem Gedanken Rechnung getragen, dass Alten- und Pflegeheime die Würde, Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der ihnen anvertrauten Bewohner wahren und achten müssen. Selbst schwer demenzkranke Menschen dürfen deshalb nicht grundlos in ihrer Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit eingeschränkt oder einfach „weggeschlossen“ werden.

 

von Rechtsanwältin Dr. Yvonne Schuld, LL.M.