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Haftung für fehlerhafte Brustimplantate: Aktuelle Urteile und Entwicklungen

Über zehn Jahre ist es nun schon her, dass der Skandal um minderwertige Brustimplantate aus Frankreich weltweit für Aufsehen und Schlagzeilen sorgte. Wir erinnern uns:

 

Billigsilikon für Brustimplantate

Der französische Medizinprodukte-Hersteller PIP hatte zwischen 2001-2010 mangelhafte Brustimplantate hergestellt. Diese waren – statt mit Spezialsilikon – nur mit billigem Industriesilikon gefüllt. Hundertausende Frauen auf der ganzen Welt erhielten diese Implantate. Nach einiger Zeit wurden die Implantate jedoch rissig, und das Billigsilikon konnte ungehindert ins Brustgewebe sickern. Dort verursachte es zum Teil schwerste Entzündungen und Gesundheitsschäden. Es wurde sogar mit Todesfällen und Krebs in Verbindung gebracht. Tausende Frauen mussten sich die PIP-Implantate wieder herausoperieren lassen.

 

Pressemitteilung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vom 01.04.2010:

 „[…] Die französische[n Behörden haben] bei einer Inspektion festgestellt, dass die meisten Brustimplantate dieses Herstellers, die seit 2001 hergestellt wurden, nicht mit dem ursprünglich vorgesehenen und dafür spezifizierten Silikongel gefüllt sind. Sie entsprechen daher nicht den gesetzlichen Anforderungen (z.B. der Richtlinie 93/42/EWG) […]“

 

Durch den Einsatz des Billigsilikons sparte das wirtschaftlich angeschlagene Unternehmen pro Jahr schätzungsweise eine Millionen Euro ein. Mittlerweile ist PIP insolvent. Der Firmengründer und einige Manager wurden später in Frankreich wegen Betruges zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

Nachdem der Skandal publik wurde, geriet aber sehr schnell auch der TÜV Rheinland (TÜV) in Bedrängnis. Denn der TÜV hatte im fraglichen Zeitraum das Qualitätssicherungssystem von PIP zertifiziert und ein Qualitätssiegel ausgestellt. Dem TÜV wurde deshalb „Schlamperei“ vorgeworfen. Der Betrug hätte mit überraschenden Kontrollbesuchen aufgedeckt werden können und müssen. Der TÜV sei daher für die Vorkommnisse mitverantwortlich.

Der TÜV hat dagegen bislang jegliche Haftung von sich gewiesen. Das Unternehmen sieht sich selbst als Opfer der Täuschung von PIP und betont stets, keine Pflichten verletzt zu haben.

 

Schadensersatzprozesse in Frankreich

Bereits Ende 2010 wurde in Frankreich Anzeige gegen den TÜV gestellt. Bald folgten auch die ersten Schadensersatzklagen von geschädigten Patientinnen und ehemaligen PIP-Vertriebshändlern. Mittlerweile sind unzählige Zivilverfahren gegen den TÜV anhängig. Die in diesem Zusammenhang bislang ergangenen Urteile fallen jedoch sehr unterschiedlich aus:

 

  • Das Berufungsgericht von Versailles verneinte im Januar 2021 eine Haftung des TÜV. Die Firma habe keine Sorgfalts- und Kontrollpflichten verletzt. Es hätten zu keiner Zeit Anhaltspunkte für die Minderwertigkeit der Brustimplantate vorgelegen. Dem TÜV könne auch nicht vorgeworfen werden, dass er keine weitergehenden Maßnahmen ergriffen habe (z.B. unangekündigte Besichtigungen von PIP usw.).

 

  • Das Berufungsgericht von Aix-en-Provence verurteilte den TÜV dagegen im Februar 2021 zu einer Millionenstrafe. Die Richter vertraten die Auffassung, dass das Unternehmen bei der Zertifizierung der PIP-Produktion seine Pflichten verletzt habe.

 

  • Im Mai 2021 entschied das Berufungsgericht von Paris, dass der TÜV für die „schuld­haf­ten Ver­säum­nis­se und Un­ter­las­sun­gen bei der Er­fül­lung sei­ner Auf­ga­ben und Pflich­ten bei der Über­wa­chung des Qua­li­täts­sys­tems“ bei der Zer­ti­fi­zie­rung der PIP-Produkte haftet. Die genaue Entschädigungshöhe wird voraussichtlich im September dieses Jahres festgelegt. Zugleich wies das Gericht aber auch Hunderte Klagen gegen den TÜV ab. Bei diesen Verfahren ging es um Frauen, die ihre Implantate vor September 2006 erhalten hatten oder die schon gar nicht nachweisen konnten, dass ihnen entsprechende PIP-Implantate eingesetzt worden waren.

Es steht zu erwarten, dass der TÜV gegen alle belastenden Urteile Berufung zum französischen Kassationshof einlegen wird. Von dort aus könnte die Sache dann wieder an die jeweiligen Berufungsgerichte zurückverwiesen werden. Die Rechtsstreitigkeiten in Sachen „PIP“ sind in Frankreich also noch lange nicht zu Ende.

 

Schadensersatzprozesse in Deutschland

Aber auch in Deutschland haben die Gerichte das letzte Wort noch nicht gesprochen. Im Jahr 2017 lehnte der Bundesgerichtshof (BGH) zwar eine sog. vertragliche Haftung des TÜV mit der Begründung ab, dass das Unternehmen keine Pflichtverletzung begangen haben. Die Angelegenheit drehte jedoch weitere prozessuale Schleifen, und so entschied der BGH im Jahr 2020, dass möglicherweise eine sog. deliktische Haftung des TÜV in Betracht komme. Der Fall wurde deshalb an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen. Dort müssen die Richter nun erneut über die Haftungsfrage entscheiden.

 

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs

Nach einiger Zeit erreichte der PIP-Skandal auch den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dieser entschied 2017, dass Prüfstellen – wie z.B. der TÜV – grundsätzlich nur den Herstellungsprozess von Medizinprodukten und nicht das Medizinprodukt selbst testen müssen. Auch unangekündigte Inspektionen bei den Herstellern hätten – jedenfalls nach damaliger Rechtslage – nicht durchgeführt werden müssen. Der EuGH stellte jedoch auch Folgendes klar: Wenn Hinweise darüber vorliegen, dass ein Medizinprodukt nicht den vorgeschriebenen Anforderungen genügt, muss die Prüfstelle alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass der Hersteller seine Verpflichtungen einhält. Ansonsten haftet die Prüfstelle auch gegenüber den geschädigten Patienten.

 

Gesetzgeberische Konsequenzen

Die minderwertigen Brustimplantate beschäftigten aber nicht nur die Justiz, sondern auch die Politik. Nach langen Verhandlungen einigte man sich in der EU schließlich auf eine Änderung der EU-Medizinprodukteverordnung. Die Neuregelungen sehen unter anderem unangemeldete Kontrollen bei den Herstellern und direkte Produktprüfungen vor. Eigentlich sollten die neuen Vorschriften bereits im Frühjahr 2020 in Kraft treten. Aufgrund der Corona-Pandemie wurde dieses Datum jedoch um ein Jahr nach hinten verschoben. Sie gelten nun ab nächstem Mittwoch, den 26.05.2021.

Sollten Sie weitere Fragen zum Themenkomplex „PIP/TÜV/Brustimplantate“ haben, steht Ihnen unsere Kanzlei gerne zur Verfügung.

 

von Rechtsanwältin Dr. Yvonne Schuld, LL.M.